Ich habe die Vermutung, dass ich u.a. auch dank „Liebling Kreuzberg“ beruflich bei den Gesetzen und Paragraphen gelandet bin. Denn ich habe schon als Kind super gerne diese Anwaltsserie oder „Verkehrsgericht“ und „Wie würden Sie entscheiden“ geschaut. „Auf Achse“ hingegen war mir zu aufregend. Ich war als Kind echt nicht für „Spannung“ gemacht und habe ca. die Hälfte der Figuren im „Sandmännchen“ als gruslig abgelehnt. Aber Manfred Krug als Anwalt in kleinen, amüsanten Anekdoten, das war genau mein Spannungslevel. Deshalb bin ich auch direkt hellhörig geworden, als ich „Ich sammle mein Leben zusammen“ von Manfred Krug entdeckt habe.
Werbung: das Rezensionsexemplar (Hörbuch) wurde mir von netgalley kosten- und bedingungslos zur Verfügung gestellt.
Themenvielfalt in Tagebuchform
In „Ich sammle mein Leben zusammen“ haben die Nachkommen von Manfred Krug dessen Tagebücher aus den Jahren 1996 und 1997 veröffentlicht. Hier erzählt Manfred Krug von zunehmend anstrengender werdenden Drehtagen am Set von „Liebling Kreuzberg“, von unbrauchbaren „Tatort“-Drehbüchern, er vergleicht Quoten und zeigt sich begeistert ob des Erfolgs seines Buches „Abgehauen“, in dem er seine Flucht aus der DDR beschreibt. Aber auch die tragischen Momente wie z.B. der Tod seines Freundes Jurek Becker oder sein Schlaganfall finden Platz. Mit besonders viel Freude erzählt Manfred Krug von seiner kleinen, unehelichen Tochter, die ihm – dem späten Vater – viel Freude bereitet. Trotz des geheimen Doppellebens, das damit verbunden ist.
Begnadeter Tagebuchschreiber
Ich hatte unglaublich viel Spaß dabei, dem Sohn von Manfred Krug dabei zuzuhören, wie er aus den Lebenserinnerungen seines Vaters vorliest. Denn Manfred Krug war in meinen Augen ein begnadeter Tagebuchschreiber. Wenn ich an meine kläglichen und kurzlebigen Versuche des Tagebuchschreibens zurückdenke („erst gingen wir dahin… und dann dorthin… und zum Schluss…“), kann ich nur vor Neid erblassen. Denn Manfred Krug hatte die Gabe, auch banale Kleinigkeiten spannend zu beschreiben.
Außerdem war es ein toller, nostalgischer Ausflug in das Deutschland Mitte der 1990er Jahre. Damals, als Gerhard Schröder als Hoffnungsträger galt.
Tiefer Einblick in die Seele
Auch gewährt Manfred Krug einen tiefen Einblick in seine Seele. Einerseits hat er ein großes Herz und spendet für Projekte, die ihm wichtig sind. Andererseits kann er sich sehr über unliebsame Kollegen, die Geier von der Presse oder unfähige Werbeproduzenten echauffieren. Vor allem Letzteres hat mich überrascht, denn ich wusste zwar, dass er für die Telekom geworben hat, aber mir war nicht bewusst, wie geschäftstüchtig und umtriebig er im Bereich Werbung gewesen ist. Passt aber zu seinem Werdegang, denn ihm, der in der ehemaligen DDR keinen Pfennig in der Tasche hatte, war naturgemäß finanzielle Sicherheit sehr wichtig. In dem Zusammenhang sei die Bemerkung erlaubt, dass Manfred Krug definitiv kein „Ostalgiker“ war. Dem Regime der ehemaligen DDR stand er mehr als kritisch gegenüber.
Schlaganfall
Neben Schmunzelmomenten, in denen Manfred Krug in Eigenregie komplette Werbespots umgeschrieben oder „Tatort“-Quoten bis ins kleinste Teil analysiert hat, gab es auch Abschnitte, die mich tief bewegt haben. Besonders möchte ich hier die Tagebucheinträge nach seinem Schlaganfall herausstellen. Ich habe noch nie etwas gelesen, was mich so hat fühlen lassen, wie es einem Schlaganfallpatienten ergehen muss. Wie bedrückend es sein muss, wenn man sich nicht mehr mit seiner Umgebung verständigen kann, aber unbedingt etwas sagen möchte. Die schwäbische Verniedlichungsform „der hat ein ‚Schlägle‘ gehabt“ wird dem definitiv nicht gerecht.
Fazit
Ich bin rundum begeistert von Manfred Krugs Tagebucheinträgen in „Ich sammle mein Leben zusammen“. Sollten weitere Jahre veröffentlicht werden, bin ich definitiv wieder mit dabei. An der Stelle möchte ich seinen Kindern Respekt zollen, denen es gelungen ist, die Tagebucheintragungen durch Anmerkungen in den zeitlichen Kontext zu setzen. Denn es gibt nun einmal Begrifflichkeiten, die in den 1990er verwendet wurden, die heute tabu sind. Außerdem finde ich es erstaunlich, dass die Nachkommen von Manfred Krug dieses gemeinsame Projekt auf die Beine gestellt haben, obwohl die jüngste Tochter aus einer späten Affäre des Vaters stammt. Insbesondere da aus den Tagebucheinträgen deutlich wird, dass dieses Kind einen ganz anderen Stellenwert im Leben des Vaters hatte, als die Älteren. Da haben sich andere Erben schon über weit weniger entzweit…