„Melina, du bist gar nicht wichtig genug, dass dich jeder Mensch wahrnimmt!“
(Über die Angst, sich in einer großen Menschenmenge zu blamieren oder einfach grundlos aufzufallen – Zitat aus „Verstecken gilt nicht!“).
Über ein schüchternes Kind – das eigentlich gar kein schüchternes Kind war.
Als Kind wurde ich von meinem Umfeld meist unweigerlich in die Kategorie „schüchtern“ gesteckt. Weil es mir immer schwer fiel, auf andere Kinder zuzugehen. Ich gerne für mich war. Ich mich gut alleine beschäftigen konnte (und deshalb in den Ferien z.B. völlig unkompliziert und genügsam war. Meine Mutter hat meine Ferien oder meine Krankheiten in völlig unproblematischer Erinnerung. Ich musste niemals „bespaßt“ werden. Man hat mir einfach ein Buch oder ein paar Playmobilfiguren in die Hand gedrückt, und ich war zufrieden).
Ich habe es nie groß hinterfragt, ob das Label „schüchtern“ wirklich zu mir passt. Auf meine angebliche Schüchternheit habe ich u.a. geschoben, dass ich mich häufig nicht zugehörig gefühlt habe. Dass ich mir manchmal wie ein Exot vorkam, der z.B. mit 16 Jahren nicht jedes Wochenende unterwegs sein musste.
Irgendwann kamen mir jedoch Zweifel an der Kategorie „schüchtern“. Da passte nicht so richtig dazu, dass ich es schon immer geliebt habe, Vorträge zu halten. Dass ich ab und zu ganz gerne im Mittelpunkt stehe.
Alle Puzzlestücke haben sich vor einigen Jahren zu einem Bild zusammengesetzt, als ich einen Artikel über „Introverts vs. Extroverts“ gelesen habe. Ich war nie schüchtern! Sondern meine „Symptome“ waren die eines klassischen „Introverts“:
- Ich brauche Zeit für mich alleine.
- Ich lebe gerne in meiner eigenen (Gedanken-)Welt und bin mir selbst „genug“.
- Ich hasse es, wenn mir Fremde auf die Pelle rücken. Mein „personal space“ ist riesig! Da bin ich im Herzen Finne (denen sagt man dieses „Problem“ nämlich auch nach).
- In großen, mir fremden Menschenmassen fühle ich mich extrem unwohl.
- Ich habe überhaupt kein Talent für „Small Talk“.
- Manchmal habe ich keine Lust zu reden. Vor allem mit Unbekannten. Dann wälze ich das gerne auf Freunde ab und stelle mich teilnahmslos daneben.
- Ich habe ein „resting bitch face“.
- Wenn man sich bei mir ganz arg beliebt machen möchte, bringt man so Anweisungen wie „Jetzt lach’ doch mal!“ Bekam ich schon als Kind bei öffentlichen Auftritten (wie z.B. bei der Teilnahme an Umzügen) zu hören.
- Ich. Hasse. Kaugeräusche. So sehr, dass ich innerlich total wütend werde und mich persönlich angegriffen fühle, wenn jemand laut isst. Mein absolutes Horrorszenario in dem Zusammenhang: ein Telefonpartner, der in den Hörer schmatzt.
- Apropos Telefon, es hat mich früher unendlich viel Überwindung gekostet, irgendwo anzurufen. Ich dachte, ich würde den Telefonpartner garantiert stören. Heute muss ich schmunzeln, wenn Twenty-Somethings (also die Generation, die mit Smartphones aufgewachsen ist), davon erzählen, wie ungewohnt es für sie ist, zu telefonieren, und wie sehr sie es hassen. Kann ich total verstehen, nur war ich mein ganzes Leben lang dazu gezwungen, meine Abneigung zu überwinden. Früher privat, heute beruflich.
- Ich bin sehr geruchsempfindlich. Ich muss nur eine Sekunde in einem Hotelzimmer sein und merke sofort, dass es vor 10 Jahren ein Raucherzimmer war.
- Selbstvertrauen ist hingegen kein Problem für mich. Ich weiß sehr genau, was ich kann und traue mir einiges zu. Klar bin ich aufgeregt, wenn ich etwas zum ersten Mal mache, aber das verursacht keine Panikattacken bei mir. Und das unterscheidet mit definitiv von den Schüchternen dieser Welt.
Mir hat die Erkenntnis, dass ich ein „Introvert“ bin – und nicht einfach nur seltsam – sehr geholfen. Es tat gut zu wissen, dass man mit seinen „Besonderheiten“ nicht alleine auf der Welt ist.
Warum mich als „nicht schüchterner Introvert“ das Buch von Melina Royer über Schüchternheit trotzdem interessiert hat
Der eine oder andere mag sich nun fragen, warum ich trotzdem „Verstecken gilt nicht! Wie man als Schüchterner die Welt erobert“ von Melina Royer gelesen habe. Zum einen weil ich Melinas Blog und Instagram super gerne verfolge. Zum anderen gibt es in meinem Freundeskreis einige Personen, die ich in die Kategorie „schüchtern“ einordnen würde, und denen ich mit Melinas Tipps gerne zu einem freieren, selbstbestimmteren Leben verhelfen möchte. Allerdings wurde mir hier bei der Lektüre sehr schnell bewusst, dass ich mit meiner Rolle als „Berater“ an meine Grenzen geraten werde. Da muss man als Schüchterner zunächst einmal selbst an seiner Situation etwas ändern wollen. Sonst kann ich auch mit einer Wand reden. Last but not least habe ich Melinas Buch gelesen, da ich für mich final verifizieren wollte, dass ich nicht schüchtern bin. Und davon bin ich nun mehr denn je überzeugt.
Warum mir „Verstecken gilt nicht“ so gut gefallen hat
Melina erzählt in „Verstecken gilt nich“ zunächst einmal ihre ureigene Geschichte. Wie schwierig es für sie war, z.B. in der Schule zu bestehen und wie sehr ihre extreme Schüchternheit ihr Leben eingeschränkt hat. Außerdem erklärt sie eindrücklich, wie es ihr gelungen ist, den Kreislauf aus sich immer mehr zurückziehen und Selbstvertrauen verlieren durchbrochen hat. Es folgen Tipps und Tricks, um sich als Schüchterner im Alltag weiterzuentwickeln. Diese sind sehr praxisnah und können ähnlich einer Checkliste abgearbeitet werden. Zwischen den einzelnen Kapiteln sind auflockernde Tatsachenberichte von anderen Betroffenen eingestreut. So wird schüchternen Lesern das Gefühl vermittelt, dass sie mit ihrem Problem nicht alleine auf der Welt sind.
Obwohl es sich um ein Sachbuch handelt, ist der Schreibstil locker (ohne in die Gefahr zu kommen, kompetenzlos zu wirken) und mitreißend. Deshalb ist das Buch auch für Leser geeignet, die ansonsten vor Sachbüchern zurückschrecken und diese in die Kategorie „schwere Kost“ oder „Hilfe, viel zu trocken!“ einordnen.
An der ein oder anderen Stelle hatte ich richtige „Aha-Erlebnisse“. Z.B. als Melina erzählt, wie sie sich nicht getraut hat, Menschen in ihrem Umfeld zu kritisieren, um stattdessen alles in sich hineinzufressen und wenn gar nichts mehr ging, regelrecht zu explodieren. Da kenne ich einen „Fall“, auf den dieses Verhalten 1:1 passt.
Eine ähnliche Reaktion hat bei mir das folgende Zitat ausgelöst:
„Ich kenne viele Frauen, bei denen ich mir wünschte, sie würden mal einen Moment absoluter Ehrlichkeit gegenüber sich selbst erleben. Damit sie spüren, dass sie nicht in ihrer Opferrolle bleiben müssen.“
Oh ja, da habe ich auch ein Exemplar in meiner unmittelbaren Umgebung, auf das diese Beschreibung zu 100% zutrifft.
Ich würde dieses Buch am liebsten allen meinen Freunden, denen es an Selbstvertrauen und damit einhergehend oft auch an Selbstliebe und Mut zur Veränderung mangelt, in die Hand drücken. Es bricht mir das Herz, wenn ich sehe, wie es viele mit der Selbstkritik völlig übertreiben und lieber im ewig gleichen Trott bleiben, anstatt einmal etwas zu wagen.
Allen, die sich für das Thema „Schüchternheit“ interessieren, kann ich „Verstecken gilt nicht!“ wärmstens ans Herz legen. Dasselbe gilt für Milenas Blog. Den kann man aber auch lesen, wenn man sich für Organisation für Selbständige, gesunden Umgang mit Social Media oder Challenges für den Alltag interessiert.
Hey!
Die Informationen zum Introvert-Dasein sind suuuper interessant, danke dafür.
Ich habe eigentlich immer angenommen, dass ich eher extrovertiert bin, zumal ich auch oft recht laut bin, Witze mache, auch mal im Mittelpunkt stehe.
Gleichzeitig bin ich aber total gerne für mich, ich „reiche“ mir ebenfalls und finde Menschen strange, die immer „bespaßt“ werden müssen. In großen Menschenmengen fühle ich mich unwohl und über das Resting Bitchface musste ich richtig lachen, das wird mir auch immer nachgesagt 😀
Das Buch möchte ich auch unbedingt lesen, auch wenn ich keinesfalls schüchtern bin.
Ist scheinbar dennoch ein spannendes Leseerlebnis.
Liebe Grüße,
Nicci
Autor
Hallo Nicci,
bei Intro- und Extroversion gibt es auch „Mischtypen“ bzw. unterschiedliche Ausprägungen (also z.B. als Extremfall totale Einsiedler oder Menschen, die zwar gerne alleine sind, aber ab und zu auch Gesellschaft brauchen.
Die grundsätzliche Definition ist in etwa, dass man als Introvert seine Energie aus dem Alleinsein zieht, während Extroverts Energie durch das Zusammensein in Gruppen generieren.
Ist insgesamt ein sehr spannendes Thema, finde ich.
Das Buch von Melina Royer fand ich echt gut. Gerade unter Frauen gibt es ja viele Schüchterne und die kann man so besser verstehen.
Viele Grüße,
Steffi
Dann bin ich wohl eher ein Mischtyp, hehe.
Was die Energie betrifft ziehe ich sie vermutlich eher aus dem Alleinsein.
Ja, das finde ich auch 🙂
Hallo Steffi,
in meiner Jugend war ich auch sehr schüchtern. Oft bin ich rot geworden, wenn man mich angesprochen hat. In größeren Gruppen fühlte ich mich auch sehr unwohl. Diese Schüchternheit habe ich erst sehr spät abgelegt. Mittlerweile würde ich mich jetzt zwar immer noch nicht als Draufgänger aber auch nicht mehr als schüchtern bezeichnen. Deine Auflistung fand ich auch mega interessant. In einigen Punkten konnte ich mich wieder erkennen, in anderen weniger.
Eine sehr schöne Kolumne/Buchvorstellung
Ganz liebe Grüße
Tanja :o)
Autor
Hallo Tanja,
das freut mich sehr, dass Dir der Artikel gefallen hat.
Und irgendwie schon witzig, dass sich die meisten selbst als schüchtern/zurückhaltend bezeichnen. Gibt kaum jemand, der sich als total forsch einschätzt.
Viele Grüße,
Steffi
Hallo liebe Steffi,
vielen Dank für deinen tollen Bericht zu meinem Buch! Besonders freut es mich, dass du dadurch Klarheit für dich gewonnen hast. Ich finde es wichtig, zu erkennen wer man ist. Gerade wenn dies mit der Erkenntnis einhergeht, dass man auch mal ein bestimmtes Problem nicht hat, haha 😛
Liebe Grüße,
Melina
Autor
Hallo Melina,
vielen Dank für Deinen Kommentar 🙂 Es freut mich sehr, dass Dir meine Rezension gefallen hat.
Und ja, es ist auch toll, wenn man ein Problem bei sich selbst ausschließen kann.
Viele Grüße,
Steffi