|Leseliebe| „Deutsches Haus“ von Annette Hess / Rezension

Mir fällt es nicht leicht, meine Meinung zu diesem Buch in Worte zu fassen. Denn mich lässt die Botschaft von „Deutsches Haus“ nicht los. Weder wenn ich an die deutsche Vergangenheit, noch an die aktuelle politische Lage denke.

 

Rezension Deutsches Haus von Annette Hess

 

Ein deutsches Fräulein und der erste Auschwitz-Prozess

West-Deutschland in den 60er Jahren. Zeit des Wirtschaftswunders. Die Deutschen haben die Schrecken des 2. Weltkriegs hinter sich gelassen. Man hat sich gemütlich in der neuen Zeit eingerichtet. Entsprechend gering ist die Motivation, auf die Vergangenheit zurückzublicken.

Allen Widerständen zum Trotz beginnt der erste Auschwitz-Prozess. Die junge Dolmetscherin Eva Bruhns begleitet diesen Prozess, um für die Zeugen aus dem Polnischen ins Deutsche zu übersetzen. Sie tut dies gegen den Willen ihrer Familie und ihres Verlobten, die weiterhin den Mantel des Schweigens über die Vergangenheit legen möchten. Für Eva beginnt eine harte Zeit. Zum einen ist da dieses unfassbare Leid, von dem die Zeugen berichten. Und die Gleichgültigkeit des „ehrbaren“ deutschen Bürgertums auf der Anklagebank. Verbunden mit dem unbestimmten Gefühl, dass auch in ihrer eigenen Familie Dinge unter den Teppich gekehrt wurden.

 

Rezension Deutsches Haus von Annette Hess

 

Täter, Opfer und so vieles dazwischen…

Wie bereits eingangs erwähnt, hat mich „Deutsches Haus“ nachhaltig beeindruckt. Denn Annette Hess gelingt es, viele verschiedene Facetten der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit in ihrem Buch zu vereinen.

Da gibt es die Täter, die wahlweise behaupten, die Zeugen würden die Unwahrheit sprechen oder sie selbst könnten sich an nichts erinnern. Und wenn ihnen doch einmal etwas eindeutig nachgewiesen werden kann, berufen sie sich auf den berühmten Satz „Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein“. Sind diese Täter wirklich so ohne jegliche Menschlichkeit? Oder können sie von sich selbst nicht glauben, dass sie zu dieser enormen Anzahl von Morden fähig waren?

Außerdem sind da die Opfer, die all ihren Mut aufbringen mussten, um ihren Peinigern wieder zu begegnen und gegen diese auszusagen. Das hat mich enorm geschockt, wie sehr die Opfer bei diesem Prozess erneut durch die Hölle gehen mussten. Mich beschäftigt noch immer, ob man es ihnen nicht hätte leichter machen können.

Und weil die Welt nicht einfach schwarz-weiß ist, gibt es auch die, die daran verzweifeln, dass ihre Familien nicht selbst zu Opfern wurde, obwohl sie eigentlich einer der von den Nazis verfolgten Gruppen angehört haben. Die sich selbst die Schuld aufladen, dass sie zu leicht davon gekommen sind.

Über allem schwebt die Frage, was hat der Durchschnittsdeutsche gewusst, der nicht der Führungsebene der Nazis angehört hat. Was hätte er wissen müssen? Vor was hat er die Augen verschlossen?

 

Rezension Deutsches Haus von Annette Hess

 

Erschreckende Aktualität

Angesichts der politischen Verwicklungen der letzten Wochen rundum den Verfassungsschutz hat mich der folgende Absatz mit ungläubigem Kopfschütteln zurückgelassen:

 


“ Auf Anordnung von Bundesinnenminister Hermann Höcherl wird der ehemalige SS-Hauptsturmführer Erich Wenger aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz in das Verwaltungsamt nach Köln versetzt.“


 

Wie kann es sein, dass sich auch nach all den Jahren die Geschichte quasi wiederholt?

 

Keine heile Welt. Insbesondere für Frauen.

Neben dieser ganzen Problematik der Vergangenheitsbewältigung hat es „Deutsches Haus“ geschafft, meinen Blick auf die 50er und 60er Jahre in Deutschland noch mehr zu „entklären“. Als ich jünger war, hatte diese Zeit für mich diesen Heile-Welt-Touch. Wahrscheinlich war mein Bild geprägt von all den lustigen Heimatfilmen. Mittlerweile weiß ich, dass es unter dieser Oberfläche heftig gebrodelt hat. Über so wahnsinnig viel wurde nicht gesprochen. Niemand konnte sich sicher sein, ob die eigenen Eltern Mörder waren.

Ein weiterer Aspekt, der mich an dieser Zeitperiode total abschreckt: wie wenig Selbstbestimmung man als Frau hatte. Ich kann mit 100%iger Sicherheit sagen, dass ich damals nie in meine heutige berufliche Position gekommen wäre. Das zeigt sich auch in „Deutsches Haus“, denn beim dort beschriebenen ersten Auschwitz-Prozess waren Frauen ausschließlich als Übersetzerinnen und Stenotypistinnen zugegen. Besonders deutlich wird der Mangel an Gleichberechtigung als Evas Verlobter sich anmaßt, hinter ihrem Rücken ihren Auftraggeber aufzusuchen, um ihre weitere Mitarbeit zu verbieten. Bis in die 70er Jahre hinein brauchte man nämlich die Zustimmung des Verlobten oder Ehemanns, um als Frau arbeiten gehen zu dürfen. Heute zum Glück undenkbar.

 

Ein Favorit

Bereits bevor ich mit „Deutsches Haus“ begonnen habe, war mir klar: das muss was werden. Denn Annette Hess ist die Autorin, die die Drehbücher zur  ZDF-Serie „Ku’damm“ geschrieben hat. Und diese Serie habe ich geliebt.

Auch das relativ offene Ende, bei dem man als Leser quasi dazu aufgefordert wird, sich zu überlegen, wie es weitergeht, hat mir sehr gut gefallen. Alles in allem eines meiner persönlichen Lesehighlights des zweiten Halbjahres. Bücher, die in der Zeit von 1900 bis 1970 spielen, entwickeln sich langsam zu meinem Lesemotto des Jahres 2018…

Das E-Book wurde mir von netgalley für eine Rezension zur Verfügung gestellt.

 

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