„Bühlerhöhe“
Brigitte Glaser
Roman
Deutsch
Hörbuch
5 Sterne (von 5 möglichen Sternen)
Ich mag historische Romane. Ich mag es in vergangene Zeiten einzutauchen und zu erfahren, wie es den Menschen damals erging. Wahrscheinlich ist deswegen „Die Buddenbrooks“ von Thomas Mann mein liebster Klassiker (vielleicht auch, weil ich ein Referat zu diesem Buch gehalten habe, bei dem ich sogar einen Lacherfolg erzielen konnte, weil ich wohl relativ lapidar von mir gegeben habe, dass Thomas Buddenbrook nach einem Zahnarztbesuch auf offener Straße verblutet ist). Oder wenn ich an die Bücher zurückdenke, die ich vor ca. 15 Jahren gelesen und favorisiert habe, dann fällt mir sofort „Unter dem Zwillingsstern“ von Tanja Kinkel ein. An der Stelle sei erwähnt, dass ich mit diesen äußerst beliebten Mittelalter-Schinken à la „Die Wanderhure“ nichts anfangen kann.
Berücksichtigt man all dies, überrascht es nicht, dass mich der Klappentext von „Bühlerhöhe“ direkt angesprochen hat, denn das Buch beschäftigt sich mit der Zeit des Wirtschaftswunders. Der Leser begleitet verschiedene Personen aus allen Schichten rund um einen Besuch von Bundeskanzler Adenauer im Schwarzwälder Nobelhotel „Bühlerhöhe“. Als ich ein recht günstiges Angebot für das Hörbuch entdeckt habe, konnte ich nicht widerstehen, denn ich bin immer auf der Suche nach neuen Hörbüchern für die Stunden, die ich im Auto zubringe. Ich war ein bisschen skeptisch, da das Buch von einer Frau gelesen wird, und ich generell männliche Sprecher bei Hörbüchern bevorzuge, aber von Anne Moll war ich positiv überrascht, denn sie hat eine angenehme, niemals schrille Stimme. Es gelingt ihr auch gut, die verschiedenen Dialekte (wie etwa das Schwarzwäldlerische der einfachen Zimmermädchen) oder Akzente (wie z.B. den französischen Einschlag eines der Protagonisten) nachzuahmen.
Kanzler Adenauer möchte ein paar erholsame Tage auf der „Bühlerhöhe“ im idyllischen Schwarzwald verbringen. Seine Ruhe droht jedoch gestört zu werden, denn es gibt Hinweise auf einen geplanten Anschlag, die den israelischen Geheimdienst aufschrecken. Israel baut auf den Kanzler, da er das Entschädigungsgesetz für die jüdischen Opfer des NS-Regimes durch den Bundestag peitschen muss. Dieses Geld wird von Israel dringend benötigt, um den Aufbau eines eigenen Staats vorantreiben zu können. Aus diesem Grund schickt der Geheimdienst die deutsche Jüdin Rosa Silbermann, die einst aus Deutschland in ein israelisches Kibbuz geflohen ist. Eigentlich soll sie gemeinsam mit Ari, einem ihr bislang unbekannten Mitarbeiter des israelischen Geheimdiensts, als Ehepaar auf der „Bühlerhöhe“ einchecken und den Kanzler beschützen, da dessen eigener Sicherheitschef die Gefahrenlage als harmlos einschätzt. Als Ari nicht wie vereinbart auftaucht, ist sie auf sich alleine gestellt. Die Suche nach einem potentiellen Attentäter gestaltet sich schwierig, denn im Dunstkreis des Kanzlers quartieren sich einige undurchsichtige Waffenlobbyisten und Waffenschieber in dem verträumten Schwarzwaldörtchen ein, um die geplante Wiederbewaffnung der Bundeswehr voranzutreiben. Außerdem hat Rosa in der misstrauischen und äußerst neugierigen Hausdame Sophie Reisacher aus dem Elsass eine unerwartete Gegenspielerin, die ihr versucht, das Leben schwer zu machen.
Es ist mir nicht leicht gefallen, eine passende Zusammenfassung für den Inhalt von „Bühlerhöhe“ zu finden, denn dieser Roman ist sehr komplex aufgebaut und präsentiert dem Leser eine Fülle an Charakteren, die schon alleine deshalb für die Geschichte benötigt werden, um die Suche nach einem möglichen Attentäter spannend zu gestalten. Trotzdem sind diese verschiedenen Personen nie nur Mittel zum Zweck. Dafür sind sie viel zu vielschichtig und authentisch aufgebaut. Mir fällt keine noch so kleine Nebenrolle ein, die mich gelangweilt hätte. Besonders gut hat mir gefallen, dass Brigitte Glaser es schafft, so viele beeindruckende Frauenpersönlichkeiten in ihr Buch einzubauen und so den Fokus von den Männern wegzulenken, die die damals stark patriarchalisch geprägte Bundesrepublik vordergründig dominiert haben. Aus der Sicht von Rosa erfährt man z.B., wie hart es gewesen sein muss, als Opfer des NS-Regimes bereits wenige Jahre nach Kriegsende zu sehen, dass es in manchen Ecken von Deutschland aussah, als sei nie etwas geschehen. Rosa ist sowieso eine
sympathische Hauptdarstellerin, mit der man ab der ersten Minute mitfiebert. Ganz anders gestaltet es sich mit der intriganten Hausdame Sophie, die sich meist so verhält, dass man sie nicht zum Freund (aber schon gar nicht zum Feind) haben möchte. Trotzdem ist sie kein eindimensional schlechter Charakter, sondern es gibt Momente, in denen man durchaus Verständnis für sie aufbringt. Sie würde sich als Biest à la Joan Collins in jede Soap wunderbar einfügen. Eine weitere wichtige Rolle spielt die verhuschte Agnes, eine Einheimische, die im nahegelegenen Hotel „Hundseck“ an der Rezeption arbeitet und unter den französischen Besatzern Schlimmes erleben musste. Sie ist das Gegenstück zu den beiden eher weltgewandten Damen Rosa und Sophie, denn sie ist nie aus dem Schwarzwald herausgekommen und hat die damals übliche Gottesfürchtigkeit tief verinnerlicht.
Mich hat die Mischung aus historischem Thriller und Kriminalfall nicht nur aufgrund des Spannungsmoments begeistert. Und spannend war es wirklich, denn als ich an einer besonders gruseligen Stelle alleine mit dem Auto durch ein Waldstück gefahren bin, habe ich kurzzeitig ernsthaft in Erwägung gezogen, auf das Radio umzusteigen. Begeistert bin ich vor allem, da mich das Buch in so vielen Bereichen zum Nachdenken angeregt hat.
So mag man z.B. auch heute genügend Punkte finden, in denen die Gleichberechtigung lange nicht am Ziel angelangt ist, aber wenn man vergleicht, wie die Verhältnisse kurz nach dem zweiten Weltkrieg waren, dann erkennt man auch, wie viel sich trotzdem getan hat. Ein Mädchen wie Agnes z.B. hatte keinerlei Freiheit bei ihrer Berufswahl. Obwohl erwähnt wird, dass sie großes Talent im Umgang mit Zahlen hat, steht ihr nie im Leben der Weg zum Abitur offen, und sie muss einfach den Job ergreifen, der ihr in ihrer ländlichen Umgebung angeboten wird. Völlig egal, welche Träume, Begabungen oder Wünsche sie hat. Selbst die in einer höheren Position tätige Sophie hat nur ein großes Ziel in ihrem Leben: noch einmal zu heiraten.
„Bühlerhöhe“ hat mir auch bewusst gemacht, wie schnell die Bundesrepublik nach 1945 wieder aufgestiegen ist. Der Aufschwung kam wirklich in Rekordzeit. Ich kann mir vorstellen, dass das für Menschen wie Rosa, die unter dem NS-Regime gelitten haben, nicht leicht zu akzeptieren war.
Daneben liefert das Buch einen sehr interessanten Blick auf die Geschichte Israels. Mir war vorher bewusst, dass Israel nach dem Zweiten Weltkriegs quasi aus dem Nichts aus dem Boden gestampft wurde und auch vom Sechstagekrieg hatte ich im Geschichtsunterricht gehört, aber wie genau dieses „in der Wüste umgeben von Feindesland einen Staat erschaffen“ ausgesehen hat, war mir nicht klar. Auch hier bekommt man durch das Buch wertvolle Einblicke. Und auch ein kleines bisschen mehr Verständnis dafür, warum sich Israel heute auf bestimmte Art und Weise verhält…
Die Geschichte des tatsächlich existierenden Hotels „Bühlerhöhe“ (das sich aktuell im Leerstand befindet) hat mich ebenfalls fasziniert. Aus dessen echter Geschichte allein, ließe sich ein Roman schreiben… Wer ein bisschen Zeit übrig hat, sollte denn Namen in eine Suchmaschine eingeben.
Von mir alle Daumen nach oben für dieses großartige Buch. Für mich ein Lesehighlight 2016.