Das hier wird vielleicht meine persönlichste Rezension EVER. Eigentlich geht es um das Buch „Ich bleibe hier“ von Marco Balzano. Allerdings möchte ich mich nicht nur auf den Inhalt des Buches konzentrieren, sondern auch darauf eingehen, warum mich dieses Buch so berührt hat.
Und was bin ich froh, dass ich dieses Buch endlich besprechen darf. Denn die Rezensionssperre war seeeeeeehr lang.
Werbung: das Rezensionsexemplar wurde mir von vorablesen.de kosten- und bedingungslos zur Verfügung gestellt.
Plötzlich ist es greifbar – und nicht einfach nur ein Ort
Kennt Ihr das auch? Man steht an einem Ort, der geschichtlich eine große Bedeutung hat. Weil dort schlimme Dinge passiert sind. Man ist auch bewegt, kann sich aber nicht wirklich in die Geschehnisse von früher hineinversetzen. Irgendwie ist da eine innere Distanz. Und dann liest man ein Buch zu diesem Ort. In dem ein persönliches Schicksal geschildert wird. Plötzlich brechen alle Dämme, denn dieser Ort ist nicht mehr einfach nur ein Ort. Da man als Leser plötzlich die Menschen und, das was sie durchmachen mussten, vor Augen hat.
Was geschah am Reschensee?
Genauso erging es mir mit dem Reschensee und „Ich bleibe hier“ von Marco Balzano.
Im Juni 2012 war ich zum ersten Mal in Südtirol. Auf dem Hinweg haben wir eine der vielen Sehenswürdigkeiten dieses Landstrichs gleich „mitgenommen“: den einsam aus dem künstlich angelegten Reschensee aufragenden Kirchturm eines durch Menschenhand gefluteten Stausees. Dieses Mammutprojekt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vollendet und sorgte dafür, dass zwei Südtiroler Bergdörfer untergingen und die ehemaligen Bewohner zwangsumgesiedelt wurden. Nicht einmal eine Entschädigung haben sie zunächst erhalten. All das konnte man an den Schautafeln am Reschensee nachlesen. Und ja, das hat mich durchaus berührt. So richtig greifen konnte ich das Schicksal dieser Menschen aber nicht. Zu unvorstellbar war das, was ihnen widerfahren ist.
Nun habe ich „Ich bleibe hier“ gelesen und plötzlich wurde die Geschichte dieser Dörfer für mich erlebbar. Hat mich regelrecht mitgerissen. Mehr als einmal hatte ich beim Lesen Tränen in den Augen. Und ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen und habe es an nur einem halben Tag verschlungen.
Frauenschicksal vor Bergkulisse
Marco Bolzano lässt in poetischen Worten Lehrerin Trina von ihrem Leben in Graun erzählen. Sie tut dies in Form eines quasi ausgedehnten Briefes, den sie an ihre verschwundene Tochter schreibt. Trina wächst als Kind von Bergbauern auf. Lässt sich zur Lehrerin ausbilden. Verliebt sich zum ersten Mal. In eine Frau! Heiratet trotzdem den verwaisten Bauernsohn von nebenan. Bekommt zwei Kinder. Und verliert sie in gewisser Weise beide.
All das geschieht vor der bewegten Geschichte Südtirols vom Ersten Weltkrieg bis in die 1950er Jahre hinein. Erst werden die Bergbauern, die viele Jahrzehnte ein friedliches Leben im Einklang mit der Natur geführt haben, mit der zwangsweisen „Italienisierung“ ihres Landstrichs konfrontiert. In diesem Zuge wird ihnen z.B. die deutsche Sprache verboten. Es folgen der Faschismus, die Annektierung durch Nazi-Deutschland und im Falle von Graun schließlich der Untergang des gesamten Dorfes.
Und heute?
Wie unwirklich erscheint diese Vergangenheit, wenn man sie mit der friedlichen Gegenwart Südtirols vergleicht. Für mich einer der schönsten Landstriche in ganz Europa. Wundervolle Landschaft, fantastisches Essen, hervorragende Infrastruktur und ein hoher Freizeitwert – hier findet man alles. Und irgendwie stimmt einen das hoffnungsvoll, wenn man auf die Welt blickt. Zeigt es doch, wie weit eine Region kommen kann, die sich in den 1960er Jahren quasi noch in einem bürgerkriegsähnlichen Stadium befunden hat.
Jahreshighlight!
Mich konnte „Ich bleibe hier“ in allen Belangen überzeugen. Es hat mich berührt, gefesselt und mir eine weitere Facette Südtirols gezeigt. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle den beinahe poetisch anmutenden Schreibstil von Marco Balzano. Der hat mir ganz wunderbar gefallen.
Für mich schon jetzt eines der Lesehighlights 2020. Das mich hoffen lässt, dass ich es 2021 wieder nach Südtirol schaffen werde…
Liebe Steffi
Das ist eine sehr bewegende Besprechung von dir. Man liest ja so oft, wenn Menschen ihr ganzes Hab und Gut durch Katastrophen verloren haben. Was das wirklich heißt kann man niemals nachempfinden, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Die von Menschenhand gemachten Katatrophen finde ich am schlimmsten. Sie sind total sinnlos. Von Zwangsenteignungen kann man sehr oft lesen. Wir können nur hoffen dass so etwas nicht mehr passiert. Die Geschichtsbücher sind voll davon. Freut mich, dass du so schöne Lesestunden mit diesem Buch hattest. Nun wünsche ich dir, dass du schon bald wieder nach Südtirol reisen kannst. Ich werde das Buch auf alle Fälle auch lesen. Danke für den Tipp.
Liebe Grüße,
Gisela
Autor
Hallo Gisela,
Deine Zeilen haben mich sehr gefreut. Vor allem, weil mir das Buch wirklich am Herzen liegt.
Solltest Du es auch lesen, bin ich sehr gespannt auf Deine Meinung.
Viele Grüße.
Stefanie