|Leseliebe| „Schlaf der Vernunft“ von Tanja Kinkel

(Verlag: Droemer, Erscheinungsdatum: November 2015)

Kurzrezension:

RAF, deutsche Geschichte, 70er bis 90er Jahre, Terrorismus, Vergebung

Ich finde die deutsche Geschichte von der außerparlamentarischen Opposition bis zur RAF schon seit einigen Jahren sehr spannend. Angefangen hat es zu Schulzeiten, da hatte ich u.a. „die sozial-liberale Koalition“ als Thema in einer mündlichen Prüfung im Fach Geschichte. Natürlich wurde dieser Abschnitt bei weitem nicht so ausführlich behandelt wie die Zeit zwischen 1933 und 1945 (oder die EU, ein Thema das mich über die Jahre durch die Fächer Geschichte, Gemeinschaftskunde und Englisch, im Studium in „Öffentlichem Recht“ und bei der Erstellung von Klausuren verfolgt hat). Mit der RAF habe ich mich mit Hilfe verschiedener Bücher („Der Baader-Meinhof-Komplex“ von Stefan Aust) und Filme („Todesspiel“ von Heinrich Breloer) auseinandergesetzt.

Folglich hat mich der neue Roman von Tanja Kinkel zu diesem Thema auch direkt angesprochen. Es liegt schon einige Jahre zurück, dass ich Romane von dieser Autorin gelesen habe („Unter dem Zwillingsstern“, „Wahnsinn, der das Herz zerfrisst“), wobei mir diese alle in positiver Erinnerung geblieben sind.

In ihrem neuen Buch verwebt Tanja Kinkel die reale Geschichte der RAF mit der fiktiven Lebensgeschichte einer Terroristin, die an einem fiktiven Attentat auf einen fiktiven Staatssekretär beteiligt ist. Sie erfindet quasi einen Nebenstrang zur Geschichte der RAF. Diese Idee finde ich sehr clever, denn wenn man keine reine, auf historischen Tatsachen beruhende Dokumentation schreiben möchte, ist es schwer möglich, auf Basis teilweise noch lebender oder noch nicht lange verstorbener Personen einen Roman zu verfassen.

Martina Müller wächst in gutbürgerlichen und wohlbehüteten Verhältnissen als Lehrertochter in Nürnberg auf. Ihre heile Welt bekommt erste Risse, als sie während des Schahbesuches auf Klassenfahrt in Berlin ist und Zeugin wird, wie die sogenannten Jubelperser auf demonstrierende Studenten einprügeln, während die Polizei tatenlos zuschaut. In der Folgezeit ist sie beim Prozess gegen die Kaufhausbomber der ersten RAF-Generation als Zuschauerin dabei und muss sich als junge, studierende Mutter durchschlagen. Der Wendepunkt in ihrem Leben wird der umstrittene Tod des inhaftierten RAF-Mitglieds Holger Meins, der seinen Hungerstreik trotz Zwangsernährung nicht überlebt. Zu diesem Zeitpunkt entschließt sich Martina Müller ihre Tochter Angelika zurückzulassen und in den Untergrund zu gehen.

Martina Müller ist die Hauptperson des Buches, dieses wird jedoch auf mehreren Zeitebenen zwischen 1967 und 1998 aus Sicht verschiedener Personen erzählt, deren Leben Martina Müller durch ihre Entscheidung, sich aktiv der RAF anzuschließen, beeinflusst hat. Da wäre ihre Tochter Angelika, deren Dasein als Zahnarztgattin und Hausfrau durch die Freilassung ihrer Mutter aus den Angeln gehoben wird. Das gleiche gilt für die alte Studentenfreundin Renate, die mittlerweile als Politikerin Teil des „Establishments“ ist. Oder den Sohn des von der RAF-Zelle um Martina Müller ermordeten Staatssekretärs, der mittlerweile selbst eine Lokalpolitikerlaufbahn eingeschlagen hat. Und den Journalisten Alex Gschwindner, dessen Vater als Fahrer für den Staatssekretär gearbeitet hat und der bei dem Attentat quasi als Nebenprodukt erschossen wurde. Sowie den Personenschützer Steffen Seidel, der das Attentat schwer verwundet überlebt hat.

Mit Perspektivenwechseln in Büchern kann man mich nur selten begeistern, da diese häufig äußerst holprig umgesetzt werden. In „Schlaf der Vernunft“ haben diese meinen Lesefluss nie gestört und durch das Springen zwischen verschiedenen Zeitebenen wurde der Spannungsbogen des Buches erhöht.

Zunächst war ich etwas zögerlich, dieses Buch unmittelbar nach den Ereignissen von Paris zu lesen, da mich die damit zusammenhängenden Schlagzeilen sowie die Flüchtlingsdiskussionen der Wochen davor so traurig gemacht haben, dass ich mich teilweise vom Lesen und Schauen von Nachrichten zurückgezogen habe. Jedocht hat mir dieses Buch – so seltsam es im ersten Moment klingen mag – Hoffnung gegeben. Die Parallelen zwischen der RAF und der aktuellen Lage sind teilweise frappierend. Auf der einen Seite junge Menschen, bei denen das Gefühl, keine Antworten von der Väter- und Tätergeneration zu erhalten (damals) bzw. Perspektivlosigkeit (heute) zu einer Auflehnung gegen die traditionellen Werte und Institutionen führt, die schließlich in einer Radikalisierung endet. Junge Menschen, die sich der Gewalt als Protestmittel zuwenden und im nahen Osten im Umgang mit Waffen ausgebildet werden. Aber warum gibt mir das Hoffnung? Ich empfinde Hoffnung, weil diese Parallelen mir zeigen, dass eine Gesellschaft die Bedrohung durch Terrorismus überstehen kann. Dass es schon immer unruhige Zeiten gegeben hat und dass nicht alles einfach nur den Bach runter geht. Hoffnung, dass man, wenn man sich die Ursachen anschaut, aus Terroranschlägen etwas lernen kann. Gleichzeitig ist es eine Warnung, dass überzogene Freiheitseinschränkungen durch den Staat nicht die Lösung sind. So schwer es auch fallen mag, ein Rechtsstaat darf sich nie auf ein Niveau mit den Mördern begeben, denn sonst macht er sich in jeder Hinsicht angreifbar.

Erwähnen möchte ich auch, dass das Buch in einem Nebenerzählstrang aufzeigt, wie viel sich in den letzten Jahrzehnten für gleichgeschlechtliche Partnerschaften geändert hat. War früher absolute Geheimhaltung gefragt, um nicht ein Karriereende oder gar Strafverfolgung zu riskieren, sieht es heute zum Glück in vielen Bereichen ganz anders aus.

Eine Leseempfehlung und 5 von 5 Sternen von mir. Verbunden mit der Hoffnung, dass der eine oder andere diese Buch lesen wird, um aus der Vergangenheit etwas für die Gegenwart zu lernen.

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