|Leseliebe| Deutschland zur Stunde Null oder wie ich beinahe den Glauben an die Deutschen verloren hätte / „Ikarien“ von Uwe Timm / Rezension

Ich habe es an dieser Stelle schon häufiger erwähnt, ich bin immer auf der Suche nach guten Hörbüchern für meine „Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte“ (ich wollte zu gerne einmal einen Begriff aus der großen Welt des deutschen Steuerrechts hier auf der Seite unterbringen…). Falls jemand einen Tipp für mich hat, gerne her damit. Im Gegenzug habe ich heute eine Empfehlung im Gepäck, für alle, die Bücher mit historischem Hintergrund mögen.

Rezension zu Ikarien von Uwe Timm

„Ikarien“

Uwe Timm
Roman
Deutsch
Hörbuch
4 Sterne (von 5 möglichen Sternen)

Michael Hansen ist in Hamburg aufgewachsen und bereits als Kind zusammen mit seiner Familie in die USA ausgewandert. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrt er als Soldat der US Army in sein altes Heimatland zurück. Mit Erstaunen reist er durch das zerbombte (Süd-)Deutschland, dessen trotz allem erhalten gebliebene landschaftliche Schönheit nicht so recht zu den Gräueltaten seiner Bewohner passen will. Hansen wird mit einem Spezialauftrag ausgestattet. Die US-Regierung möchte mehr über das Wirken des Eugenikers Alfred Ploetz und dessen Forschungen im Bereich „Rassenhygiene“ in Erfahrung bringen. Michael beginnt deshalb mit der Befragung eines Weggefährten des bereits verstorbenen Ploetz. Die Lebenswege der beiden Männer hatten sich irgendwann getrennt und während Ploetz unter den Nationalsozialisten zum gefragten Wissenschaftler avancierte, wurde sein (ehemaliger) Freund zum sozialdemokratischen Regimegegner, der in Dachau einsaß und sich später im Keller eines Antiquariats verstecken musste. Hansen lässt sich schon bald von den Erzählungen des alten Mannes genauso in den Bann ziehen wie von den „deutschen Fräuleins“, mit denen er sich in amouröse Abenteuer stürzt.

Rezension zu Ikarien von Uwe Timm

Ich habe selten eine so mitreißende Darstellung von Deutschland zur Stunde Null gelesen wie in dem Roman von Uwe Timm. Hansen hat mich quasi an die Hand genommen, und ich bin gemeinsam mit ihm zwischen Ruinen umher spaziert und habe beobachtet, wie die Deutschen versuchen, sich in einer neuen Welt zurecht zu finden. Nicht immer mit legalen Mitteln, erschreckend häufig auch durch reines Verdrängen. In dem Zusammenhang ist mir der Satz eines Kollegen von Hansen besonders im Gedächtnis geblieben: „Ich kann es nicht mehr hören!“ Die immer gleichen Ausreden. Wir haben nichts gewusst. Wir hatten keine andere Wahl. Eigentlich wollten wir das gar nicht. Ja, wir waren in der Partei, aber mit dem Gedankengut haben wir uns nicht identifiziert. Ein Volk der Mitläufer und Wendehälse. Umso erleichterter ist man als Leser, dass ein echter Regimekritiker in den Befragungen durch Hansen zu Wort kommt. Nur so verliert man nicht den Glauben an die (deutsche) Menschheit.

Sehr spannend fand ich auch zu erfahren, wie die Amerikaner damals die „Übernahme“ des von ihnen besetzten Teils von Deutschland organisiert haben. Da wurden z.B. bereits lange vor Ende des Krieges die entsprechenden Propagandaplakate gedruckt und schließlich nach Deutschland geschickt. Ein beeindruckender Organisationsaufwand, bei dem man sich beim Blick auf die gegenwärtige Situation in den USA fragt, ob die Amerikaner aktuell zu so etwas überhaupt in der Lage wären.

Den Begriff „Eugenik“ hatte ich vorher nicht gekannt, was jedoch kein Problem ist, da die Thematik im Buch ausführlich erläutert wird. Dabei wird deutlich, dass das Thema „Erbgesundheitslehre“ nicht durch die Nationalsozialisten „erfunden“ oder populär gemacht wurden sondern bereits – z.B. in Nordeuropa oder bei den Sozialdemokraten – erschreckend en vogue war. Die theoretischen Ausführungen zum Thema sind ab und an etwas weitschweifig, da war es von Vorteil für mich, dass ich das Buch nicht gelesen sondern gehört habe, denn da kommt man besser durch gewisse Längen.

Für mich persönlich war der Teil über Gerhart Hauptmann und Naturalismus besonders interessant, da ich dazu und zu dem Buch „Der Biberpelz“ vor vielen Jahren in der Oberstufe ein umfangreiches Referat gehalten habe.

Die Frauengeschichten von Hansen stehen auf den ersten Blick im scharfen Gegensatz zum ernsten Grundton des Buches. Andererseits gehört das Thema „Fraternisieren“ und die Frage, wie sich die deutschen Frauen in der Stunde Null durch das Leben geschlagen haben, genauso dazu wie z.B. die „Entnazifizierung“.

Ein weiteres Thema, das gegen Ende des Buches in den Fokus rückt, hatte ich vor „Ikarien“ nicht auf dem Schirm, aber Uwe Timm schildert sehr eindringlich, wie schnell die Verfolgung von ehemaligen Nationalsozialisten für die Amerikaner in den Hintergrund gerückt ist, und sie sich stattdessen auf den Kampf gegen den Kommunismus konzentriert haben. Ich frage mich seit diesem Hörbuch, ob dass uns Westdeutschen in die Karten gespielt hat. Wären die Amerikaner ohne diese „Bedrohung aus dem Osten“ in gleichem Maße an einem Wiederaufbau Deutschlands interessiert gewesen?

„Ikarien“ ist definitiv schon jetzt eines der Bücher aus 2018, das ich nicht vergessen werde, weil es mir viel Stoff zum Nachdenken geliefert und meinen Horizont erweitert hat. Es ist keine leichte Kost und an ein paar Stellen zu ausführlich geraten, schafft es aber trotzdem, Wissen zu vermitteln und gleichzeitig zu unterhalten. Eine klare Leseempfehlung von mir (die überraschenderweise auch vom „Spiegel“ bestätigt wird).

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