|Leseliebe| „Die Listensammlerin“ von Lena Gorelik

„Die Listensammlerin“

Lena Gorelik
Roman
Deutsch
4 Sterne (von 5 möglichen Sternen)

Ich habe bereits vor einigen Jahren die ersten drei Romane von Lena Gorelik gelesen. Diese haben mir hervorragend gefallen, denn zum einen hat Lena Gorelik eine ganz eigene Schreibweise, und zum anderen mag ich die russische Seele und fand es sehr interessant, einen Einblick in den russischen (bzw. deutsch-russischen) Alltag zu bekommen.

In „Die Listensammlerin“ erzählt Lena Gorelik zwei Geschichten, die miteinander verwoben sind.

In der Gegenwart geht es um Sofia, die um das Leben ihrer kleinen Tochter Anna bangt. Anna wurde mit einem lebensbedrohlichen Herzfehler geboren. Sofia fällt es sehr schwer, mit dieser Situation umzugehen. Sie kann nicht über ihre Ängste reden, weshalb die einzige Möglichkeit für sie ist, die Krankheit ihrer Tochter zu verarbeiten, an ihren Listen zu schreiben. Listen führt sie schon seit Kindertagen. Darin hielt sie früher ihre Lieblingslehrer fest, heute listet sie gute und schlechte Ärzte oder Sätze, die man im Krankenhaus gesagt bekommt, auf. Mit Flox, dem Vater ihrer Tochter, hat sie bis zur Geburt ihrer Tochter eine glückliche, freie Beziehung mit vielen Reisen geführt. Mittlerweile driften die beiden auseinander, denn jeder geht anders mit dem Herzfehler der kleinen Anna um. Nicht nur aufgrund deren Erkrankung fällt es Sofia schwer, sich in ihre Mutterrolle einzufinden. Das mag daran liegen, dass auch Sofias Verhältnis zu ihrer Mutter, die gemeinsam mit Sofia und der mittlerweile an Demenz leidenden Oma aus der Sowjetunion geflohen ist, belastet ist.

In der Vergangenheit steht Sofias Onkel (also der Bruder ihrer Mutter) Grischa im Mittelpunkt. Von diesem hat Sofia ihre Leidenschaft für Listen geerbt. Grischa ist schon als Kind aus der Masse herausgestochen, was in der Sowjetunion nicht gerade von Vorteil war. Er war immer ander als die anderen. Hat Fragen gestellt, die niemand sonst zu stellen wagte. War für jede „Clownerei“ zu haben. Später ist er in die  Dissidentenszene geraten.

Ich habe dieses Buch als wahnsinnig packend und intensiv empfunden. Das liegt zum einen an der Thematik, denn weder schwerkranke Kinder noch Unterdrückung in einer Diktatur sind leichte Kost. Zum anderen auch am Schreibstil von Lena Gorelik. Sie schreibt in sehr langen, verschachtelten Sätzen, so dass man beim Lesen immer aufmerksam bleiben muss, denn sonst weiß man plötzlich nicht mehr, von wem oder was sie gerade spricht. Ich habe irgendwo gelesen, dass sie versucht, im Deutschen genauso „blumig“ zu formulieren, wie man es im Russischen üblicherweise macht. Vielleicht liegt es daran. Mir hat diese Art des Schreibens sehr gut gefallen, denn sie trägt dazu bei, dass man durch dieses Buch besonders intensiv zum Denken angeregt wird.

Die Beschreibung des Lebens in der Sowjetunion fand ich wahnsinnig interessant. Hier geht es nicht darum, eine alte Sowjet-Romantik aufleben zu lassen (ähnlich der hierzulande gelegentlich heraufbeschworenen Ostalgie), sondern das Leben in der Sowjetunion wird schonungslos mit all seinen Fehlern geschildert. Wie wenig man sich erlauben konnte, aus der Masse auszuscheren. Wie es war, mit wildfremden Menschen eine Wohnung zu teilen. Auch wenn hier in Deutschland nicht alles perfekt ist, man sollte sich wirklich darauf besinnen, seine Freiheiten zu schätzen und nicht als selbstverständlich hinzunehmen. In der Hinsicht hat mich das Buch an den Film „Das Leben der anderen“ erinnert.

Im Gegenwartsteil war ich davon beeindruckt, wie es Lena Gorelik schafft, die Hilflosigkeit von Eltern eines lebensbedrohlich erkrankten Kindes zu schildern. Als Schwester eines Bruders, der seine ersten Lebensjahre mehr in Krankenhäusern als zu Hause verbracht hat, weiß ich, wovon sie schreibt. Ich kann mir bis heute wenig Schlimmeres vorstellen, als ein schwer krankes Kind zu haben. In diesem Zusammenhang finde ich es auch erwähnenswert, dass man durch das Buch einen guten Einblick in das Leben von sogenannten gut integrierten Einwanderern, die Deutschland sehr schätzen, sich aber trotzdem einige – in diesem Fall russische – Eigenheiten bewahrt haben, bekommt.

Trotzdem vergebe ich keine 5 Sterne, denn manchmal hat mich Sofia genervt. Das ist vielleicht kein faires Urteil, denn erst durch diese Charakterzüge von Sofia ist das Buch stimmig geworden, trotzdem hätte ich sie beim Lesen manchmal am liebsten geschüttelt, weshalb dieses sowieso schon schwere Buch kein reines Lesevergnügen war.

Trotzdem eine klare Leseempfehlung – auch für die anderen Bücher von Lena Gorelik. Wer etwas über die russische Seele erfahren möchte, ist bei ihr goldrichtig.

 

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