|Leseliebe| „Provokateure“ von Martin Walker

„Provokateure“ – Der siebte Fall für Bruno Chef de Police

Martin Walker
Krimi
Deutsch
5 Sterne

In diesem Roman wird es quasi tagesaktuell politisch. Ein in die Islamisten-Szene eingeschleuster Agent wird von furchterregenden Islamisten ermordert. Sami, ein in Algerien geborener autistischer Junge aus Saint-Denis, wird in Afghanistan aufgegriffen und mit Brunos Hilfe zurück nach Hause geschickt. Dort beginnen umfangreiche Untersuchungen, um herauszufinden, welche Rolle der technisch begabte Junge in der islamistischen Bewegung in Afghanistan gespielt hat. Die Geschichte zieht Kreise und sorgt sogar für internationale Verwicklungen. Die Idylle von Saint-Denis bekommt Risse und Bruno hat alle Hände voll zu tun, seine geliebte Heimat zu schützen. Aber es gibt auch positive Nachrichten, denn Saint-Denis hat Chancen auf die großzügige Erbschaft eines jüdischen Geschäftsmanns, der als Kind gemeinsam mit seiner Schwester in Saint-Denis vor den Nazis versteckt wurde. Ein weiterer Erzählstrang beschäftigt sich mit einem traumatischen Ereignis in der Vergangenheit der seit langem mit Bruno (platonisch) befreundeten Ärztin Fabiola. Dieses Ereignis entwickelt sich zu einem echten Kriminalfall.

Dieser Krimi ist gewalttätiger und brisanter als die anderen Bücher der Reihe. Trotzdem kommen die regionalen Besonderheiten und vor allem die Kulinarik nicht zu kurz. Auch wenn Martin Walker an seiner eher bedächtigen Erzählweise festhält, hat mich die Geschichte von der ersten Seite an in ihren Bann gezogen. Besonders gut gefallen haben mir die vielen Details, die man zur französischen Geschichte erfährt, was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass Martin Walker Historiker ist. Durch den jüdischen Teil der Erzählung gibt er einen Einblick in die Situation Frankreichs während des zweiten Weltkriegs unter dem Vichy-Regime. Auch über die Vergangenheit Frankreichs als Kolonialmacht gibt es einige interessante Stellen. Letzteres fand ich sehr spannend, denn das ist die Verbindung, warum es heute überhaupt Muslime in Frankreich gibt. Deshalb kam bei mir auch ab und zu der Gedanke auf, dass Frankreich aktuell quasi von der Vergangenheit eingeholt wird. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir in diesem Zusammenhang u.a. eine Stelle, in der erwähnt wurde, dass Frankreich Algerien okupiert hatte, um an die umfangreichen Erdölvorräte zu kommen.

Nachhaltig beeindruckt hat mich auch die folgende Aussage über den algerischen Bürgerkrieg in den 90er Jahren:

„Es war ein unbeschreibliches Gemetzel … Frankreich schaute weg, bis ein Kloster angegriffen und mehrere französische Geistliche getötet wurden.“

Einen interessanten Ansatz beinhaltet in diesem Zusammenhang der folgende Abschnitt:

„Ich fürchte, wir haben noch viel zu wenig verstanden, inwieweit die islamistische Welt insgesamt traumatisiert ist … Muslime seien Umwälzungen ausgesetzt, die alle ihre Traditionen und Welthaltungen in Frage stellen. Ähnliches hätten Europäer zur Zeit der Renaissance und Reformation durchmachen müssen … Man bedenke, dass die westliche Zivilisation sechs Jahrhunderte brauchte, um all das zu verkraften. Im Verlaufe dieses Prozesses gab es immer wieder Bürgerkriege… Araber und Muslime müssen nun all das auf einmal verdauen: Kulturschock, Glaubensirritationen, Identitätsverlust und Kriege. Und wir haben es noch nicht einmal geschafft, dafür zu sorgen, dass sich diejenigen unter ihnen, die im Westen leben, angenommen fühlen und sich mit unserer Kultur identifizieren können.“

An die Fußball-EM und die zweifelhafte Leistung der französischen Sicherheitskräfte vor allem in der ersten Turnierwoche erinnert hat mich dieser Satz:

„Im Stillen fragte er [Bruno] sich, ob die französische Polizei wohl effizienter wäre, wenn alle Dienste zusammengefasst wären, anstatt sich gegenseitig zu behindern…“ 

Und zu guter letzt musste ich an Gina-Lisa Lohfink und die „Nein heißt nein“-Diskussion denken, als sich Bruno an seine Studentenzeit und den folgenden, zweifelhaften Spruch erinnert hat:

 „Von einer angebrochenen Schachtel kann sich jeder bedienen.“

Für mich war dieser Krimi spannend und lehrreich. Im Gegensatz zu gewissen Experten aus dem Feuilleton, die die Charaktere klischeebeladen und die Geschichte sterbenslangweilig fanden, hatte ich den  Eindruck, dass der Autor alle „Lager“ (also Muslime, Juden, „klassische“ Franzosen) ausgewogen dargestellt hat. Und für mich war die Lehre des Buches, dass es in kriegerischen Konflikten immer die unschuldigsten und schwächsten Parteien am schlimmsten trifft (also die Kinder) und alle Opfer egal wann und egal welchen Ursprungs immer nur ein Ziel haben: zu überleben und irgendwann in Frieden leben zu dürfen. Das ist bestimmt nicht die schlechteste Quintessenz einer Geschichte.

Einen Seitenhieb auf das Feuilleton kann ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen: wenn das einzige Ziel einer Reihe über Bücher auf der Beststellerliste ist, diese zu verreißen und die Leser derselben lächerlich zu machen, dann kann ich das nicht ernst nehmen. Natürlich werden nicht alle tausendfach verkauften Bücher irgendwann in die Literaturgeschichte eingehen. Aber irgendwas müssen deren Autoren schon richtig machen, damit sie so viel Anklang finden!

Zum Abschluss dieser überraschend langen Rezension noch ein kurzer Exkurs zu dem Aspekt der Geschichte, mit dem ich am wenigsten gerechnet hätte. Bruno lernt (mal wieder…) eine attraktive Frau kennen, die genau in sein Beuteschema passt (unabhängig, intelligent, auf die Karriere fixiert), aber trotzdem null seiner Lebensplanung (Familiengründung im Kaff Saint-Denis) entspricht. Soweit so dem geübten Bruno-Leser bekannt. Aber hier fand ich die zarte Liebesgeschichte wirklich wunderschön und berrührend, so dass ich am Ende mit der Hoffnung zurückgeblieben bin, dass aus den beiden trotz der schlechten Voraussetzungen etwas wird (okay, das mag ein klitzekleines bisschen auch daran liegen, dass ich Brunos eigentliche aktuelle Gespielin Pamela nicht leiden kann). Irgendwie hätte ich einem Autor wie Martin Walker so viel Gespür für eine Liebesgeschichte nicht zugetraut.

Was bin ich froh, dass ich nicht im Feuilleton arbeite und diesem Buch einfach, weil es mir gefallen hat und mich zum Nachdenken angeregt hat, 5 von 5 Sternen geben darf…

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